Ausgabe 2/2022, Mai

WIdO-Themen

Heilmittelbericht: Weniger Heilmittelbehandlungen bei Kindern

Die Corona-Pandemie hat insbesondere Kindern und Jugendlichen viel abverlangt. Schulschließungen und der erste umfassende Lockdown haben die zur Entwicklung notwendigen Lern- und Erfahrungsorte stark reduziert. Wie sich die Pandemie auf die ergo- und sprachtherapeutische Versorgung von Kindern mit Entwicklungsstörungen ausgewirkt hat, zeigt der aktuelle Heilmittelbericht.

Rund 302 Millionen einzelne Heilmittel-Behandlungssitzungen wurden 2020 für gesetzlich Versicherte abgerechnet. Gegenüber 2019 ist das mit 4.117 Behandlungen je 1.000 GKV-Versicherte ein Rückgang von 5,8 Prozent. Den stärksten Einbruchbei der Inanspruchnahme von Heilmitteln gab es zu Beginn der Pandemie im 2. Quartal 2020. Im weiteren Verlauf zeigten sich dann leichte Nachholeffekte und eine Normalisierung der Inanspruchnahme gegen Ende des Jahres.

Nicht in allen Altersgruppen oder Leistungsbereichen war der Rückgang der Therapien gleich stark ausgeprägt. Auffällig ist, dass Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, bei denen die Heilmitteltherapien überwiegend bei Entwicklungsstörungen eingesetzt werden, hiervon stärker betroffen waren. So betrug der Rückgang in der Ergotherapie insgesamt 2,2 Prozent, in der therapieintensivsten Altersgruppe, bei den Fünf- bis Neunjährigen, jedoch 9,1 Prozent gegenüber dem Durchschnittswert der drei Vorjahre (siehe Abbildung). Auch bei der Physiotherapie lag der Rückgang in dieser Altersgruppe mit 12 Prozent deutlich höher als der durchschnittliche Rückgang über alle Altersgruppen (knapp 2 Prozent). Eine geringere Inanspruchnahme von Stimm-, Sprech-, Sprach- und Schlucktherapie gegenüber dem Durchschnitt von 2017 bis 2019 zeigte sich in allen Altersgruppen, besonders bei den – vergleichsweise seltener behandelten – Hochaltrigen. In der Altersgruppe der bis Vierjährigen, in der fast ausschließlich Sprachentwicklungsstörungen behandelt werden, betrug der Rückgang aber immer noch 5,5 Prozent und in der mit großem Abstand therapieintensivsten Altersgruppe, bei den Fünf-bis Neunjährigen, 4,3 Prozent.

Für den Heilmittelbericht 2021/2022 hat das WIdO die insgesamt rund 43,8 Millionen Heilmittelleistungen ausgewertet, die 2020 zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung abgerechnet wurden. Ein weiterer Fokus neben der Inanspruchnahme der Therapien lag auf der Umsatzentwicklung, die maßgeblich von den gesetzlichen Neuregelungen durch das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) mit der Umstellung der regionalen Preise auf bundeseinheitliche Höchstpreise beeinflusst wurde.

Andrea Waltersbacher ist Projektleiterin des Heilmittel-Informations-Systems (AOK-HIS) im WIdO.

„Es bleibt abzuwarten, welche nachteiligen Auswirkungen die Schul- und Kitaschließungen und die geringere Inanspruchnahme von Ergo- und Sprachtherapie während der Pandemie auf die Entwicklung der Kinder haben wird.“

Andrea Waltersbacher ist Projektleiterin des Heilmittel-Informations-Systems (AOK-HIS) im WIdO.

Krankenhaus-Report: Patientenversorgung während der Corona-Pandemie

Die Corona-Pandemie hat das gesamte Gesundheitssystem vor große Herausforderungen gestellt. Dies gilt insbesondere für den stationären Bereich, wie der aktuelle Krankenhaus-Report zeigt.

Im stationären Bereich wurden nicht nur die besonders schweren Corona-Fälle behandelt. Aufgrund der hohen Infektionsgefahr mussten hier auch in besonderem Maße Abläufe umgestaltet und gleichzeitig die Versorgung der Patienten ohne Covid-19 soweit wie möglich aufrechterhalten werden.

Zum ersten Mal seit Jahrzehnten gingen im Jahr 2020 die Krankenhausleistungen im Vergleich zum Vorjahr im zweistelligen Prozentbereich zurück. Dieses verringerte Leistungsniveau setzte sich 2021 fort und ging mit einer deutlichen strukturellen Verschiebung der Leistungen einher. Der Großteil der dadurch entstandenen finanziellen Einbußen der Kliniken wurde durch den Staat ausgeglichen. Für die Zukunft stellt sich die Frage, welche Lehren für die Bewältigung derartiger Krisen im Bereich der stationären Versorgung zu ziehen sind und wie Organisation und Finanzierung der stationären Leistungserbringung zukunftsfähig aufgestellt werden können.

Der Krankenhaus-Report 2022 greift mit dem Schwerpunkt „Patientenversorgung während der Pandemie“ Themen der Versorgung von Corona-Patienten, aber auch die Auswirkungen der Pandemie auf die onkologische, die Herzinfarkt- und die Schlaganfallversorgung auf. Neben den indikationsbezogenen Perspektiven wird auch auf die „Lessons learned“ der Pandemie und die Krankenhausfinanzierung in Krisenzeiten eingegangen. Weitere Beiträge beleuchten die in der Pandemie neu aufgesetzten Prozesse der Versorgungssteuerung und ihre Auswirkungen auf die stationäre Versorgung in den Kliniken selbst, auf regionaler und auf Bundesebene.

Qualitätsmessung in der Pflege mit Routinedaten

In Deutschland leben ca. 700.000 gesetzlich Versicherte dauerhaft im Pflegeheim.

Um ihre pflegerische und medizinische Versorgung bewerten und gezielt verbessern zu können, führte das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) gemeinsam mit dem aQua-Institut GmbH und der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Ostfalia das zweijährige Innovationsfonds-Projekt „Qualitätsmessung in der Pflege mit Routinedaten (QMPR)“ durch. Mit Abschluss des Projekts im März 2022 liegen nun zwölf Qualitätsindikatoren vor, die auf Basis der Routinedaten von AOK-Kranken- und Pflegekassen entwickelt wurden und den Fokus auf berufs- und sektorenübergreifende Versorgungsaspekte legen. Das Indikatorenset liefert nach Einrichtungen differenzierte Hinweise zu Auffälligkeiten wie Unter- oder Fehlversorgungen. Die Indikatoren sind so ausgewählt und konzipiert, dass sie relevante, beeinflussbare Versorgungsdefizite adressieren. Die Implikationen für die praktische Anwendung sind vielfältig und reichen von der Initiierung und Fundierung interner Qualitätsentwicklung und berufsgruppenübergreifender Qualitätsdialoge über die potenzielle Ergänzung der gesetzlichen Qualitätssicherung bis hin zur Nutzung für Fragestellungen der Versorgungsforschung. Der mehrbändige Ergebnisbericht zu Methodik, Evidenz und empirischen Ergebnissen für jeden Indikator steht nun auf der WIdO-Webseite zum kostenlosen Download bereit.

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Analysen – Schwerpunkt: Gesundheitspolitik und Koalitionsverträge

Koalitionsvertrag: von persönlichen Absprachen bis zur ausbalancierten Roadmap

Robert Paquet, Observer Gesundheit, Berlin, und Wolfgang Schroeder, Universität Kassel

In den ersten Jahren der Bundesrepublik Deutschland bildeten persönliche Absprachen zwischen den Parteispitzen die Basis für die Arbeit der neu zusammengesetzten Regierung. Heute werden Koalitionsverträge detailliert ausgehandelt und sind später in einem konsentierten Dokument nachzulesen. Häufig werden darin die anstehenden Aufgaben neu justiert und Lösungsschritte vereinbart. Der aktuelle Koalitionsvertrag bildet das Dach für die erste echte Koalition von drei Parteien. Trotz divergenter Interessen und zuweilen diffuser Orientierung könnte er die Grundlage für eine erfolgreiche Gesundheitspolitik in der 20. Wahlperiode bilden.

Generationengerechtigkeit: kein zweckmäßiges Kriterium im Kontext der Sozialversicherung

Klaus Jacobs, Wissenschaftliches Institut der AOK (WIdO) Berlin

Generationengerechtigkeit wird auch im Hinblick auf die Ausgestaltung der Sozialversicherung immer wieder als Kriterium verwendet, ohne hinreichend operationalisiert zu sein. Ihre Gleichsetzung mit kapitalbasierter Finanzierung ist ein Narrativ, das von der Notwendigkeit einer umfassenden Betrachtung intergenerationaler Beziehungen sowie von einer Orientierung an dem wesentlicheren Kriterium der Verteilungsgerechtigkeit ablenkt. Diese zu stärken muss jedoch gerade auch unter Nachhaltigkeitsaspekten Priorität haben.

Der Ampel-Koalitionsvertrag: von neuen Rollen und alten institutionellen „Gewissheiten“

Christopher Hermann, Berlin

Der gesundheitspolitische Teil des Ampel-Koalitionsvertrages offeriert ein buntes Allerlei. Die Programmatik der Regierungsparteien spielt dabei keine Rolle. Im Koalitionsvertrag selbst wird eine Priorisierung von Projekten kaum sichtbar. Versorgungspolitische Leerstellen der vorangegangenen Großen Koalition III werden aufgegriffen – allerdings meist ohne institutionelle Rollenzuweisung. Das korporatistische GKV-Regime als zukunftsfähiger funktionaler Ordnungsrahmen darf a priori als gesetzt gelten; es geht allenfalls um Inkrementelles. Dabei kommt Krankenkassen vornehmlich eine Funktion als Systemfinanzier zu. Der einzig als begrenzte Organisationsreform angekündigte Umbau des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) hat allerdings das Potenzial dazu, gegebenenfalls die gesamte ordnungspolitische GKV-Statik zu erfassen.